Ein deutscher Abgeordneter spricht sich gegen den Krieg aus

(Quelle)

Rede von Sahra Wagenknecht vor der Syrien-Abstimmung im Deutschen Bundestag, 4. Dezember 2014

Aus dem Deutschen übersetzt von Tom Winter 5. Dezember 2015

Herr Präsident, meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler! Bei der bewegenden Trauerfeier vor einer Woche in Paris zum Gedenken an die Opfer der Terroranschläge wurde das Lied „Quand on n'a que l'amour“ des großen Liedermachers und Pazifisten Jacques Brel gesungen. Es stand in krassem Gegensatz zur kriegerischen Rhetorik des französischen Präsidenten.

Quand on n'a que l'amour
Pour parler aux canons …

Wenn alles, was man liebt, darin besteht, über Kanonen zu reden – Das ganze Lied ist eine Hommage an Liebe und Frieden und eine klare Ablehnung von Gewalt und Krieg. Die Zeremonie wurde auch hier in Deutschland gezeigt. Ich wünschte, dass Sie alle, die heute mit „Ja“ stimmen wollen, dieses Lied gehört und seine Botschaft verstanden hätten.

In Paris fielen vor genau drei Wochen 130 Opfer einem barbarischen Terroranschlag. Die Täter waren fast ausschließlich französische und belgische Staatsbürger und wuchsen in den überwucherten Vororten von Brüssel und Paris auf. Und jetzt stehen Sie hier und sagen, dass wir ISIS schwächen und zurückschlagen werden, indem wir unschuldige Menschen, Frauen und Kinder in Rakka und anderen syrischen Städten bombardieren und töten. Was ist das für ein Wahnsinn? Ich frage Sie: In welchem ​​Jahrhundert leben wir?

Wenn du hier stehst und sagst, das war keine leichte Entscheidung, sondern eine wohlüberlegte, und dass wir, die wir Nein sagen, keinen Plan haben, etwas anderes zu tun, dann sage ich: Ja, es gibt einen anderen Plan. Es gibt nur einen anderen Plan. Krieg macht alles nur noch schlimmer. So kann man ISIS nicht bekämpfen. Mit diesem Abenteuer werden Sie es nur stärken.

Rakka ist eine Stadt mit 200 Einwohnern. Bei den jüngsten Bombenangriffen wurden Krankenhäuser und Schulen zerstört. Zu den Opfern gibt es keine offiziellen Zahlen, aber man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Bombenanschläge in den letzten drei Wochen mehr Zivilisten in Syrien getötet haben als die barbarischen Anschläge in Paris. Und die Mütter von Rakka weinen um ihre Kinder. Auch Bombenanschläge sind Terrorismus.

Wollen sich die verfeindeten Länder wirklich auf einen tödlichen Konflikt mit dem IS einlassen? Um zu sehen, wer besser töten kann? Wer das tut, hat schon verloren.

Der französische Wirtschaftsminister Macron sagte nach den Anschlägen, die französischen Unternehmen seien für „einen Nährboden“ verantwortlich, auf dem Terror gedeihen könne.

(Marcus Held (SPD): „Das geht jetzt zu weit“!)
Gegen das „Gleichheitsversprechen“ – immer noch Macron zitierend – arbeitet die Französische Republik täglich. „Wir haben den sozialen Aufstiegschancen einen Riegel vorgeschoben“, sagte er. – Sie bestehen darauf, dass Sie mit Frankreich solidarisch sein wollen. Ich frage Sie: Welches Frankreich? Das Frankreich der politischen Klasse, das für die schlimmsten Kriege der letzten Zeit verantwortlich ist – ich erinnere mich nur an den in Algerien – oder mit dem Frankreich der französischen Bevölkerung, die vor allem in Frieden und Sicherheit leben will?
(Beifall von links – Akklamation von Marieluise Beck (Bremen) (Bündnis 90/Die Grünen).)

Ich sage Ihnen: Wenn Sie echte Freundschaft und echte Solidarität mit Frankreich wollen, dann sollten Sie zum Beispiel aufhören, dem Land über Brüssel Sparmaßnahmen aufzuzwingen, die immer mehr jungen Menschen ihre Zukunft nehmen. Das wäre echte Solidarität. Denn Sie könnten einen Schritt in Richtung Fortschritt machen.
(Beifall von links – Marcus Hero (SPD): Unglaublich!)

Deshalb noch einmal: Es ist eine einfache Lüge, dass dieser Krieg ISIS schwächen wird. Das ist auch der Unterschied zum Kampf der kurdischen Verbände vor Ort.

Vielleicht konnte man nach diesen 14 Jahren noch glauben, dass ein Bombenkrieg das Problem des Terrorismus lösen würde, aber heute nicht mehr, nicht allen Erfahrungen zum Trotz. 2001 haben Sie beschlossen, die Bundeswehr nach Afghanistan zu schicken. Seit 14 Jahren herrscht dort Krieg, dem Tausende Zivilisten und auch über 50 Bundeswehrsoldaten zum Opfer fielen. Womit ist das Ergebnis? Heute genießen die Taliban in Afghanistan mehr Unterstützung in der Bevölkerung als je zuvor. Der ganze Krieg war eine große Pleite. Du könntest es sogar selbst ruhig zugeben

(Applaus von der Linken – Volker Kauder (CDU/CSU): „Was für ein Blödsinn“!)

Im Jahr 2003 marschierte Bush mit seiner „Koalition der Willigen“ in den Irak ein. Saddam Hussein wurde gestürzt. Sechs Monate später gründeten sie den „Islamischen Staat“, der heute den halben Irak beherrscht. Im Jahr 2011 wurde Libyen bombardiert. Gaddafi wurde gestürzt. Seitdem herrscht dort Chaos, und auch in Libyen hat sich mittlerweile der „Islamische Staat“ etabliert. Und das Gleiche gilt auch für Syrien. Und doch hat das Pentagon selbst kürzlich erklärt, dass verschiedene islamistische Terrorgruppen und zunächst sogar der IS von den USA unterstützt wurden, um Assad zu schwächen. Das ist die traurige Wahrheit: Es war der Westen, und es waren hauptsächlich die Vereinigten Staaten, die das Monster erschaffen haben.

Das hat uns jetzt alle in Angst und Schrecken versetzt. Das ist die Wahrheit; Du willst es nicht hören. Aber es ist das Produkt unserer Kriege, der westlichen Kriege in dieser Welt.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Lassen Sie eine Frage von Herrn Janecek zu?

Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Natürlich.

Dieter Janecek (Bündnis 90/Die Grünen):

Vielen Dank, Frau Wagenknecht, dass Sie diese Frage zugelassen haben. – Außerdem werde ich, wie Sie, gegen diese Expedition stimmen. Aber ich frage mich sehr, ob Sie in einigen Ihrer Argumentationen nicht einseitig agieren.

(Beifall von Bündnis 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der SPD)

Sie beschweren sich zu Recht über die zivilen Opfer der Luftangriffe in Rakka. Doch wie sieht es mit den Luftangriffen der Russen etwa in der Region Homs aus? Ich kenne einen syrischen Flüchtling, dessen Familie sich genau in dieser Region befindet und sich darüber beschwert, dass russische Bomber seit Mitte September massive Angriffe mit vielen Opfern fliegen. Darüber kein Wort von dir,

noch von Herrn Bartsch in der Debatte am vergangenen Mittwoch.

(Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE):! Okay. Kein Problem!)

Sind Sie auf einem Auge blind, dass Sie dem Westen die Schuld an allem geben, aber die verheerenden Operationen der Russen nicht in diesen Zusammenhang stellen?

Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Ich finde es sehr bedeutsam, dass Sie alle applaudieren, wenn jemand die zivilen Opfer der russischen Bomben anführt.

Natürlich sind diese Opfer genauso tragisch wie die Opfer der Bombenangriffe der Franzosen, wie die Opfer der Bomben der Amerikaner, wie die Opfer aller anderen Bomben. Dieser Bombenkrieg ist das falsche Mittel. Bomben schaffen keinen Frieden, egal ob sie aus Frankreich, aus Russland oder aus den USA geworfen werden.

Das haben wir überall gesagt. Ich habe gestern auf einer Demonstration hier vor dem Reichstag gesprochen, zu der wir eingeladen waren. Da habe ich genau das Gleiche gesagt.

Aber es ist unehrlich: zu applaudieren und zu sagen, dass diese Opfer Unrecht haben – wie auch in der Presse gezeigt wurde –

– aber heute stimmen Sie einem Militäreinsatz zu, der eine ganze Reihe neuer Opfer mit sich bringen wird.

Das ist einfach falsch. Wenn Sie gegen Bomben sind und die russischen Bomben verurteilen, dann heben Sie nicht Ihre Hand, um die Tornados loszuschicken, die noch mehr Bomben abwerfen und noch mehr Zivilisten töten werden. Das wäre konsequent, das wäre die logische Konsequenz.

Dann hätte ich Respekt vor dir.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Wir wollen keinen Respekt von Ihnen!)

Natürlich weiß ich sehr gut, dass Assad ein Diktator ist, der sein Land brutal unterdrückt hat. Aber ich weiß genauso gut, dass es in Washington nie um Demokratie und Menschenrechte ging, als in autokratischer Arroganz entschieden wurde, welche Diktatoren in der Welt unterstützt und aufgewertet werden sollten und welche Diktatoren untergraben und gestürzt werden sollten. In all diesen Kriegen ging es noch nie um etwas anderes als um Gas, Öl und Einflusssphären. Mittlerweile haben 1.3 Millionen Menschen solche Ziele mit ihrem Geld bezahlt.

(Henning Otte (CDU/CSU): Alles Klischees!)

– Klischees? Das Leben von 1.3 Millionen Menschen, und Sie sprechen von Klischees? Dieser Zwischenruf kann sicher nicht ernst gemeint sein! Ich finde es wirklich unverschämt.

(Beifall der Linken – Matthias Ilgen (SPD): Ihr seid unverschämt!)

Es waren diese Kriege, die den Nahen und Mittleren Osten in ein Feuer verwandelt haben, ein Feuer, vor dem Millionen Menschen um ihr nacktes Überleben fliehen. Es ist ein großes Versagen der europäischen Politik, den Vereinigten Staaten so lange die Hand ausgestreckt und ihnen ihren Willen gelassen zu haben.

Als im Jahr 2001 der sogenannte Krieg gegen den Terror begann, gab es weltweit etwa 100 international gefährliche Terroristen. Heute, nach 14 Jahren des sogenannten Krieges gegen den Terror, sind es Hunderttausende. Wollen Sie, dass es Millionen sind? Dann müssen Sie den gleichen Weg gehen und die Spirale von Krieg und Gewalt weiter vorantreiben.

Im Jahr 2000 starben weltweit 3000 Menschen bei Terroranschlägen. Letztes Jahr waren es bereits 30,000. Sie wissen ganz genau, dass Sie mit der heutigen Entscheidung die Terroranschläge in Deutschland natürlich verstärken. Nein, ich sage Ihnen: Wer den IS wirklich schwächen will, muss seinen Waffen-, Finanz- und Nachschub an neuen Kämpfern unterbinden.

Das heißt, er muss den Mut haben, den terroristischen Paten unter Ihren vermeintlichen Verbündeten, also der Türkei und den Saudis, endlich das Handwerk zu legen.

Es ist empörend, dass der Schmuggel über die türkische Grenze bis heute nicht aufgehört hat und jede Nacht 100 neue Dschihadisten – derzeit sogar noch mehr – diese Grenze überschreiten, um den Nachschub des IS zu sichern. Ich denke, anstatt Syrien nacheinander zu bombardieren, wäre es besser, Erdogan dazu zu bringen, seinem üblen Spiel endlich ein Ende zu setzen. Übrigens ist es dieser Erdogan, der die dort wirklich kämpfenden kurdischen Gruppen bombardiert, nicht zuletzt mit deutschen Waffen! Das ist der Skandal. Das ist die ganze Heuchelei dieser Politik.

Hören Sie auf, Waffen an Saudi-Arabien und Katar zu liefern! Heute schlagen wir eine Resolution für einen sofortigen Stopp der Waffenexporte nach Saudi-Arabien, Katar, in die Türkei und in die Kriegsregion vor. Wer sich weigert, für diese Resolution zu stimmen, sollte nie wieder sagen, dass er den islamistischen Terror schwächen will.
(Opposition von CDU/CSU und SPD)
Das ist nämlich wirklich pure Heuchelei.

Doch wer heute dafür stimmt, führt Deutschland in einen Krieg mit völlig unvorhersehbarer Eskalationsgefahr

(Volker Kauder (CDU/CSU): Genug jetzt – Gegenruf des Abg. Katja Kipping (DIE LINKE): Nein, es reicht bei weitem nicht – Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):.! Das müssen Sie hören, Herr Kauder !)

in einem Krieg, für den es kein UN-Mandat gibt, was völkerrechtswidrig ist und eindeutig im Widerspruch zum Grundgesetz steht, weil dort weder Frankreich noch Deutschland in Raqqa und Aleppo verteidigt werden. Diejenigen, die heute dafür sind, würden unsere Soldaten in einen Krieg schicken, in dem bereits 14 andere Staaten Seite an Seite, miteinander/gegeneinander kämpfen, ohne gemeinsames Ziel und ohne gemeinsame Strategie, nicht einmal innerhalb der NATO-Staaten , geschweige denn darüber hinaus.

Die Wiener Friedensgespräche – vor einer Woche hatten wir das Gefühl, dass Herr Steinmeier wirklich und ehrlich an ihrem Erfolg arbeitet –

(Matthias Ilgen (SPD): Er ist – Ulli Nissen (SPD): Was ist los? Was soll das heißen?)

– werden durch die Eskalation des Krieges viel schwieriger statt einfacher. Das alles ist einfach unverantwortlich!

(Matthias Ilgen (SPD): Sie sind unverantwortlich!)

Machen Sie sich endlich bewusst, was der sogenannte Krieg gegen den Terror tatsächlich gebracht hat. Krieg ist Terror, der neuen Terror erzeugt.

(Beifall von der Linken – Volker Kauder (CDU/CSU): Sind Ihre zehn Minuten noch nicht abgelaufen?)

Ich sage Ihnen: Es ist, als ob Sie Papst Julius III. bestätigen, was er im 16. Jahrhundert gesagt hat – –

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das sind schon mehr als zehn Minuten!)

– Ich bin ganz am Ende.

(Beifall bei CDU/CSU und SPD – Zurufe bei CDU/CSU: Bravo – Endlich!)

– Sie möchten nicht, dass Sie es hören, aber Sie werden es öfter hören, denn dieser Krieg wird dauern – Es ist, wie gesagt, als ob Sie bestätigen wollten, was Papst Julius III. in der sagte 16. Jahrhundert:

Wenn Sie nur wüssten, mit welch geringem Verständnisaufwand die Welt regiert wird, wären Sie erstaunt.

Aber eine Welt mit Atomwaffen kann es sich nicht leisten, ohne Verständnis regiert zu werden; weil das einfach zu gefährlich ist. Deshalb wird die Linke heute gegen dieses Kriegsabenteuer stimmen.

(Beifall von den Linken – Matthias Ilgen (SPD): Du verstehst es einfach nicht – Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen): Das war eine Katastrophe! Wirklich beschämend!)

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