Kriegstreiber erlebten als Kinder Gewalt

Von Franz Jedlicka, PressenzaJuni 1, 2023

Als Soziologe und Friedensforscher beschäftige ich mich mit den Zusammenhängen zwischen Erziehungsstilen in Ländern auf der ganzen Welt und ihrer Friedfertigkeit. Ich stelle die einfache Frage: „Kann ein Land nachhaltig friedlich werden, wenn ein großer Teil seiner Kinder bereits Gewalt in der Familie erlebt?“ Fast alles, was ich bisher dazu recherchiert habe, deutet auf ein klares „Nein“ hin (die wichtigsten Quellen und Statistiken dazu habe ich in meinem E-Book „The Forgotten Peace Formula“ veröffentlicht). Und das „Child Protection SDG“ 16.2. ist – vielleicht ganz bewusst – ein Unterpunkt des Friedens-SDG 16.

Meine Forschung ist interdisziplinärer Natur: Erstens geht es um internationale Daten zu Gewalt gegen Kinder. Hier gibt es zum einen Statistiken von UNICEF, z. B. die Berichte „Hidden in plain view“ und „A famous Face“, zum anderen detaillierte Listen zum gesetzlichen Kinderschutz vor körperlicher Züchtigung in Ländern rund um den Globus Welt: unter http://endcorporalpunishment.org (Körperstrafe ist die englische Bezeichnung für körperliche Züchtigung). Diese Listen zeigen auch, ob körperliche Züchtigung in einem Land nicht nur in Familien, sondern auch in Schulen, Kindergärten oder sogar Gefängnissen (!) erlaubt ist.

Diese Daten können mit dem Global Peace Index verglichen werden, der jedes Jahr vom Institute for Economics and Peace (IEP) veröffentlicht wird und Länder nach ihrer Friedlichkeit bewertet. Schon hier wird deutlich, dass in den friedlichsten Ländern der Welt – Österreich ist fast immer unter den Top 5 zu finden (körperliche Züchtigung wurde in Österreich 1989 verboten – es war das dritte Land weltweit) – Kinder nicht mehr geschlagen werden dürfen. Aber natürlich gibt es noch andere Faktoren wie Demokratie, Wohlstand, geringe soziale Ungleichheit.

Die nächste wissenschaftliche Disziplin ist natürlich die Psychologie: Wenn man sich auf die frühkindliche Entwicklung konzentriert, ist jetzt klar, dass frühkindliche Traumata – denn Schlagen ist genau das – eine lange negative Nachwirkung haben und im schlimmsten Fall die Empathiezentren schädigen oder blockieren im Gehirn. Natürlich wird nicht jedes Kind, das in jungen Jahren geschlagen wurde, als Erwachsener gewalttätig, aber das Gegenteil ist der Fall – und hier kommt die Kriminalpsychologie ins Spiel –, das fast jeder Gewalttäter (ja, das sind meist Männer …) erlebt hat Gewalt als Kind. In Ländern ohne Verbot körperlicher Züchtigung gibt es daher eine höhere Zahl gewaltbereiter Menschen, weil ihr Empathiegefühl in der frühen Kindheit gestört war.

Die Neuropsychologie hingegen hat festgestellt, dass es keinen „Aggressionstrieb“ gibt, sondern dass Aggressivität immer eine Reaktion auf selbst erlebte Gewalt, Beleidigungen, Vernachlässigung oder Ausgrenzung ist. Insbesondere Joachim Bauer erläutert dies ausführlich in seinen Büchern „Das kooperative Gen“ und „Schmerzschwelle“. Rutger Bregman beschreibt es in seinem Buch „Basically Good“ sozialhistorisch.

Auch Gewalttäter „im großen Stil“, also Kriegstreiber, Diktatoren und Despoten, erlebten als Kinder fast immer Gewalt. Hier kommt die Geschichtswissenschaft ins Spiel, insbesondere die „Psychohistorie“ (auch politische Psychologie genannt): Historiker haben begonnen, die Kindheit politischer Persönlichkeiten zu untersuchen. Ein frühes wichtiges Buch hierzu war „Am Anfang war Bildung“ von Alice Miller, in dem sie sich mit der Kindheit Adolf Hitlers auseinandersetzte: Er erlebte in seiner Herkunftsfamilie zum Teil extreme Demütigungen. Meiner Meinung nach ist das aktuell beste Buch zu diesem Thema „Kindheit ist politisch“ von Sven Fuchs, das die Kindheiten von Stalin, Mussolini, Saddam Hussein und vielen anderen untersucht – und auch: jetzt besonders brisant – die Kindheit von Wladimir Putin (he zu viel erlebte Gewalt und Vernachlässigung – und auch körperliche Züchtigung ist in Russland noch nicht verboten).

Friedensforschung wird in gewisser Weise auch in der Kultur- und Sozialanthropologie betrieben, in der indigene Völker auf verschiedenen Kontinenten hinsichtlich ihres friedlichen – oder kriegerischen – Verhaltens untersucht werden. Hier tauchen hin und wieder Aussagen zur gewaltfreien Kindererziehung auf, man muss diese Studien aber ehrlich gesagt als nicht statistisch aussagekräftig bezeichnen – denn es wurden keine Statistiken, sondern lediglich Beschreibungen erstellt.

So verdichtet sich ein Gesamtbild, aus dem deutlich wird, dass eine gewaltfreie Erziehung von Kindern ein wichtiger Friedensfaktor ist. Wenn man dann eine pädagogische Perspektive einnimmt – im Hinblick auf Friedenspädagogik –, stellt sich natürlich die Frage: Ist es nicht widersprüchliche Bildung, wenn Erwachsene ihren Kindern beibringen wollen, wie wichtig Gewaltlosigkeit ist, sie aber selbst Gewalt in der Kindererziehung anwenden? Ironischerweise ist dies auch in religiösen Kulturen sehr häufig der Fall: So gibt es zum Beispiel das Bibelzitat „Wer mit der Rute verschont, verdirbt das Kind“ – und in manchen Religionsgemeinschaften (z. B. den Evangelikalen in den USA) wird es befürwortet mit Vehemenz – und oft bekämpfen sie sogar Versuche, Kinderschutzgesetze einzuführen. Die USA sind übrigens das einzige UN-Mitgliedsland, das die UN-Kinderrechtskonvention nicht ratifizieren will: Dort dürfen Kinder sogar in manchen Schulen noch immer mit Schlägen mit einem Holzbrett bestraft werden – dem Paddel – ein Skandal, der in Europa viel zu unbekannt ist.

Insgesamt geht es in meiner Forschung also um eine „Kultur des Friedens“, eine konsequente Kultur der Gewaltlosigkeit in allen Bereichen der Gesellschaft: einfach deshalb, weil es nicht glaubhaft ist, vom Wunsch nach Friedlichkeit zu sprechen, sondern Gewalt in der Gesellschaft zuzulassen Bildung von Kindern. Deshalb möchte ich für einen solchen Ansatz der Friedensförderung den Begriff „Peace Mainstreaming“ vorschlagen: Er besagt, dass Gewalt (und Unterdrückung) in allen Bereichen der Gesellschaft reduziert und beseitigt werden müssen, wenn ein Land nachhaltig friedlich werden soll.

Dass es dabei auch um die Gleichberechtigung und Sicherheit von Frauen geht, wurde ebenfalls deutlich gezeigt (siehe die Bücher von Valerie Hudson et.al. und die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates zur Bedeutung der Beteiligung von Frauen an Prozessen der Friedenskonsolidierung).

Natürlich ist der gesetzliche Schutz von Kindern vor Gewalt eine friedensfördernde Strategie, die nur mit der Zeit funktionieren wird: Sie ist ein erstes Signal für die Bedeutung des Themas, wird aber im jeweiligen Land Diskussionen auslösen – und nur eine allmähliche Veränderung in der Kindererziehung Praktiken Methoden Ausübungen. Und dann wird es wohl noch eine Generation dauern, bis gewaltfrei aufgewachsene Kinder das Alter erreichen, in dem sie ein Land mitgestalten können. Daher müssen politische Akteure, denen die Friedlichkeit und Stabilität ihres Landes am Herzen liegt, auf dieser Ebene unverzüglich handeln. Wie Mahatma Gandhi sagte: „Wenn wir wirklich Frieden wollen, müssen wir bei den Kindern beginnen.“ Aus meiner Sicht ist dieses Zitat auch wissenschaftlich belegt.

Webseiten des Autors Franz Jedlicka: friedensforschung.com, whitehand.org

Kommentar

  1. Da ich ein wenig Deutsch spreche, habe ich einen Blick auf whitehand.org geworfen: Es handelt sich um eine Initiative, die das Bewusstsein für körperliche Züchtigung von Kindern weltweit in deutscher Sprache schärfen (und Menschen zum Protest ermutigen) soll. Grundsätzlich teilt Jedlicka Informationen, die in englischer Sprache bereitgestellt werden, auf Websites wie end-violence.org und endcorporalpunishment.org. Ich habe einen Freund gefragt, der in Deutschland lebt, und tatsächlich scheint das Thema dort nicht sehr bekannt zu sein.

    PS: Der Autor hat auch eine englische Website: Peace-Studies.com.

    Barbara

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